Grußwort - Festspielgeflüster neu

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Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, formulierte zur Bad Hersfelder Aufführung von "Das Tagebuch der Anne Frank" folgendes Grußwort:

Das „Tagebuch der Anne Frank" hat auch fast 71 Jahre nach dem letzten Eintrag vom 1.  August 1944, nur drei Tage vor Anne Franks Verhaftung, nichts an Aktualität verloren. Die Ereignisse der vergangenen Monate haben uns eindrücklich vor Augen geführt: Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sind mitnichten Probleme von gestern, sie machen sich auch heute noch in unseren Gesellschaften breit. Der NSU-Skandal, die Welle von antisemitischen Übergriffen und der Erfolg rechtspopulistischer Parteien in ganz Europa sind ein Alarmzeichen.

Daher kommt die Produktion von Holk Freytag zur richtigen Zeit. Sie legt den Finger in die schmerzhafteste Wunde in der deutschen Geschichte. Sie hält uns einen Spiegel vor und zeigt, wozu Menschen fähig sind – im negativen wie im positiven Sinne. Ja, das Stück ist geradezu eine Parabel auf die Unmenschlichkeit von Intoleranz und Verfolgung.

Anne Frank war ein außergewöhnlich begabtes Mädchen. Das Tagebuch ist die berührende Lebensbeichte einer heranwachsenden jungen Frau, die ihre ganze Kraft aus ihrem unerschütterlichen Glauben an die Zukunft, an das Überleben zieht. Insofern ist ihr Werk eine einzige Ode an das Leben.

Lassen Sie uns nicht vergessen: In Deutschland lebten vor 1933 rund 500.000 Juden, also nicht einmal ein Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung. Trotzdem ließen die Nazis eine ganze Nation glauben, dass dieser verschwindend geringe Prozentsatz eine Bedrohung für alle sei. Auch heute noch vermögen Rattenfänger von Pegida oder der AfD mit plumpen Parolen und absurden Behauptungen eine wachsende Zahl von Menschen für sich einzunehmen.

Das „Tagebuch der Anne Frank" zeigt uns aber auch, dass die Verfolgung und Ermordung der Juden nicht zuletzt eine kulturelle Katastrophe für unser Land war und ist. Der Holocaust hat nicht nur Millionen Juden in ganz Europa das Leben gekostet, er hat einen Großteil des einzigartigen jüdischen Lebens – sei es in der Kultur, Wissenschaft oder Wirtschaft – ausgelöscht. Heute gibt es zwar in vielen deutschen Städten wieder ein lebendiges jüdisches Kultur- und Gemeindeleben, aber die tiefen Wunden und Narben des Holocaust schmerzen nach wie vor.

Sich mit dem dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen, ist keine leichte Übung. Dennoch ist die Erinnerung an den Holocaust, an die Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bürgerinnen und Bürger für uns Deutsche – ob jung oder alt – eine bleibende Aufgabe und Verpflichtung. Auch wenn meine Generation keine persönliche Schuld für die nationalsozialistischen Verbrechen trifft, stehen wir zu unserer Verantwortung.

Vor allem für junge Menschen ist Anne Frank ein Bezugspunkt bei der Reise in die Vergangenheit. Anne Frank baut Brücken in unsere schwierige Geschichte, sie nimmt uns mit in ihre Zeit. In ihrer Altersgenossin können Jugendliche von heute ihre eigenen Sorgen und Gedanken wiederfinden und entdecken, dass es die gleichen Dinge sind, an denen Menschen auf der ganzen Welt leiden und erfreuen. Indem wir die Welt durch Anne Franks Augen sehen, begreifen wir, dass wir auch heute nicht wegschauen dürfen, wenn Menschen wegen ihrer Religion, Hautfarbe oder sexuellen Orientierung diskriminiert werden.

Ich bin überzeugt davon: Kultur kann die Welt bewegen - und verändern! Sie ist imstande, gesellschaftliche Reformen anzustoßen und zu beschleunigen. Sie kann Europa Beine machen und eine Richtung geben. Daher finde ich es großartig, dass ein kreativer Kopf wie Holk Freytag gemeinsam mit seinem Team gerade jetzt für Akzeptanz und ein friedliches Miteinander eintritt – immer wieder kritisch und doch stets voller Hoffnung. Das „Tagebuch der Anne Frank" weist uns den Weg in unsere gemeinsame Zukunft in einem friedlichen, bunten und weltoffenen Europa.

Michael Roth
Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt

 
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